Bist du nicht müde?

Schulhausübernachtung mit der Klasse 8 a

Always go a little further into the water than you feel you’re capable of being in. Go a little bit out of your depth. And when you don’t feel that your feet are quite touching the bottom, you’re just about in the right place to do something exciting.“

– David Bowie

 

„Naaa, und wieee fanden Sie’s sooo, von eins bis zehn?“ Manche Tage beginnen mit fordernden Fragen, die unangenehm und bedeutungsschwer erscheinen. „Naja, eine…“ – und bevor man sich eine passende Antwort zurechtgelegt hat, kommt viel zu selten eine Hilfe, die die Frage mit ungewohnter, aber zufriedener Leichtigkeit beantwortet: „Das war eine Z-e-h-n von zehn, definitiv!“. 

Wer das auch so fand, hat wahrscheinlich recht. Denn die letzte Nacht vor den Herbstferien, die die Klasse 8 a in den Klassenräumen im Erdgeschoss verbrachte, lässt sich nur mit den besten Adjektiven beschreiben: Sie war ungebrochen leicht, hell, absichtslos, schön, heilsam, lustig und damit frei.

Denn viele Regeln, die Schule tagsüber braucht, um zu funktionieren, sind nachts außer Kraft gesetzt. Für alle Beteiligten war die Übernachtung im Schulgebäude ein Abenteuer, ein gewollter Regelbruch mit dem, wie Schule tagsüber organisiert ist, und gleichzeitig in ihrer ernsthaften Organisation angenehm irrelevant.

 

Denn viele Regeln, die Schule tagsüber braucht, um zu funktionieren, sind nachts außer Kraft gesetzt. Für alle Beteiligten war die Übernachtung im Schulgebäude ein Abenteuer, ein gewollter Regelbruch mit dem, wie Schule tagsüber organisiert ist, und gleichzeitig in ihrer ernsthaften Organisation angenehm irrelevant.

Das (Schul-)Leben besteht nicht nur aus Druck, Erfolgserwartungen, Pflichten, Zahlen und Noten: Es ist notwendig, in diesem Rahmen zu leben, aber es ist ebenso notwendig, aus ihm herauszufallen und sich zeitweise von ihm zu entfernen. Diese Distanz muss dann aber ebenso gewollt sein wie die zahlenmäßig darstellbare Ernsthaftigkeit des sonstigen Schullebens: Denn erst durch die Freiheit, die man sich selbst und anderen zugesteht, gewinnt das Leben an Qualität, Resonanz und Tiefe.

 

Sushi und Just-Dance-Tanzbattle

Die Schulhausübernachtung fand Ende Oktober statt, als es draußen langsam regnerisch und grau wurde. Marlene schreibt: „Wir hatten die Übernachtung für die Halloweenzeit geplant. Als wir uns alle wie verabredet um ca. 18:30 Uhr in der Schule trafen, war alles wunderschön im Halloween-Stil dekoriert. Das hat mir persönlich sehr gut gefallen“. Nachdem die SchülerInnen angekommen waren, wurden die Klassenzimmer bezogen: „Wir haben uns darauf geeinigt, dass jeder beliebig viele Spielsachen wie PS4, XBOX oder Just Dance mitbringen durfte. So hatte Langeweile keine Chance“. Sie breiteten ihre Schlafsachen aus, stellten Sternenhimmel-Projektionsgeräte auf, legten mitgebrachte Gesichtsmasken bereit und planten den Abend. „Außerdem bestellten wir Essen bei einer Sushi-Bar und einem Dönerladen. So war für jeden etwas dabei und alle waren glücklich. Nach dem Essen ging es erst richtig los, denn Herr Proksch und Frau Curella, die uns netterweise bei der Übernachtung unterstützten, machten ein Just Dance-

Tanzbattle. Frau Curella gegen Herrn Proksch – das fand ich sehr lustig und den LehrerInnen machte es auch Spaß“.

 

„Sag mal, die Diskokugel in der Aula, das ist doch deine…“

Für den Abend war noch eine Überraschungsbesucherin eingeladen, die nicht mehr an der Wirtschaftsschule arbeitet: „Später bekamen wir noch Besuch von einer bekannten Lehrerin, Frau Greubel“. Sie war die Mathematiklehrerin in der sechsten Klasse und eine von der Klasse geschätzte Persönlichkeit, die zunächst unter Beweis stellte, dass sie nach so langer Zeit alle SchülerInnen noch mit Namen kannte und ihnen aufmerksam zuhören konnte. In ihrer Anwesenheit wurde das Gruppenspiel „Werwolf“ ernsthaft und ausgiebig gespielt.

Die SchülerInnen nutzten Neonlichtstäbe, Soundboxen, Spielekonsolen und den Bass der großen Bühnenlautsprecher als rhythmische Hintergrundmusik, aus denen zum Beispiel Songs von Eminem, Mero, 187, 50 Cent oder Peter Fox zu hören waren: „Alle malen schwarz, ich seh‘ die Zukunft pink. Wenn du mich fragst, wird alles gut, mein Kind. Mach dein Ding, aber such‘ keinen Sinn und was nicht da ist, musst du erfinden“.

Irgendwann stürmten die SchülerInnen aufgeregt in ein Klassenzimmer und man hatte als Erwachsener das Gefühl, alles machen zu dürfen, aber auf keinen Fall, wirklich auf gar keinen Fall nachschauen oder fragen zu dürfen, was in diesem Raum geschieht.

„Alle waren beschäftigt und die Zeit verging wie im Flug“, resümiert Marlene. Aber das war nur ein Teil eines schönen, bunten und vielfältigen Abends.

 

Alles erfunden, aber alles empfunden

„Ruck zuck war es halb eins und somit war auch schon die Nachtruhe eingetroffen. Wir haben den Tag in aller Ruhe ausklingen lassen“, schreibt Marlene. Wenn das nur so stimmen würde. Wie bei allen Berichten hier müssen Sie selbst entscheiden, ob das wahr ist oder nicht. Vielleicht lehne ich mich noch ein bisschen weiter aus dem Fenster: Möglicherweise hat sich nachts noch ein geheimnisvolles Klopfen bemerkbar gemacht? Und die Fluchttür war mysteriöserweise nicht verschlossen? Und ein Dinosaurier tanzte unter einer Discokugel zu Lady Gagas „Just Dance“ in der Aula?  Ein Dinosaurier?! Glauben Sie bitte nicht alles, was in einem Jahresbericht steht: „Ich würde das mit dem am Fenster Klopfen tatsächlich rauslassen“ wird über Teams ausgemacht.

Denn was in der Nacht passiert, bleibt dort und steht nicht auf einem und schon gar nicht auf diesem Papier. Die Nacht darf viele Geheimnisse beherbergen, und ihr vielleicht größtes ist: Es ist gut, nicht nur das zu tun, das man soll oder muss. Das bleibt vielleicht auch die beste Antwort auf die Unvollkommenheit unserer Welt, die wir tagsüber so wollen – in der Schule und außerhalb.

 

Liegen ist Frieden

Aber irgendwann schliefen sie doch ein, wenn auch kürzer als erwartet. Der Plan, sich trotz allem in der Nacht für den nächsten regulären Schultag ausgiebig zu erholen, war nur ein langweiliger und eigentlich von vornherein zum Scheitern verurteilter Wunsch der Erwachsenenwelt. Vielleicht war das Wort „Übernachtung“ ohnehin immer nur ein Vorwand und das Schlafen an diesem Abend nur eine maximal lästige Pflicht, die jeder nur erfüllte, damit die mitgebrachten Luftmatratzen und die Wärme in den Zimmern überhaupt eine Existenzberechtigung hatten: Tag und Nacht gingen untrennbar ineinander über.

 

Schwarz zu blau

Der folgende Freitagmorgen war ein Übergang von Dur zu Moll: Nicht seltsam genug war das viel zu frühe Aufstehen, das Aufräumen und das zerbeulte Zähneputzen in den Schultoiletten – zu einer Zeit, in der die morgens ankommenden SchülerInnen wieder mit verschlafenem Blick auf den kommenden Schultag warteten.

Das Neonlicht im Klassenzimmer zeichnete an diesem Morgen tiefe, graue Falten unter die Augen der müden Gesichter: „Am nächsten Morgen waren alle so unglaublich müde, dass niemand Lust und Kraft hatte, sich mit irgendeinem Unterrichtsstoff zu beschäftigen. So haben wir den Vormittag langsam angehen lassen“, erinnert sich Marlene. In der ersten Stunde wurde im Klassenzimmer gefrühstückt oder – je nach Perspektive – in der gerade endenden Nacht noch ein kleiner Mitternachtssnack gegessen: „Ein paar MitschülerInnen hatten Waffeleisen mitgebracht. So hatten wir auch etwas zum Frühstücken“.

„Dann schliefen die meisten von uns mit irgendeinem Kissen auf einem Tisch“, fährt sie fort. Es war fast so, als wäre das expressionistische Großstadtlied von Peter Fox, das in der Nacht gespielt wurde, nun Wirklichkeit geworden: „Die Frühschicht schweigt, jeder bleibt für sich“. Und tatsächlich: Wer zu dieser Zeit in die Gesichter der 8 a blickte, konnte fast keine SchülerInnen mehr erkennen, sondern nur noch beige und bleierne, aber zufriedene Müdigkeit.

 

There’s freedom in failure

Es ist wichtig, nicht nur das zu tun, das man tun soll oder muss. Aus dem monotonen Schulalltag auszubrechen heißt, spontan zu sein und seiner Intuition zu folgen. Nur weil das in keinem Lehrplan steht und in der Schule nicht thematisiert wird, ist das nicht falsch. Aber macht es das Leben besser? Es schafft für eine Nacht das Gefühl, intensiver und mit allen Sinnen im Hier und Jetzt zu leben. Für ein paar Stunden setzt es auch die allseits bekannten Regeln außer Kraft, die die Schule am Vormittag während der Unterrichtszeit braucht, um zu funktionieren. 

Wer sich zu sehr auf eine biedere Ordnung verlässt, wer zu viel Angst hat oder sich nichts zutraut, dem fehlt auf Dauer wahrscheinlich etwas: In den eigenen Gewohnheiten ist zwar gutes und ruhiges Leben möglich – aber keines, das wirklich intensiv und erfüllend ist. Wer sich selbst in seinen Bedürfnissen nie richtig kennen lernt, wer nie Fehler machen will, wer nie Grenzen austestet, der wird sich selbst fremd bleiben und die Träume anderer Leute träumen. Er wird mehr funktionieren als eigenständig leben und

wahrscheinlich nicht nur als Jugendlicher, sondern auch als Erwachsener kein intensives Lebensgefühl entwickeln. Ein solches Leben ohne Risiko ist möglich – aber es ist langweilig.

„Midnights became my afternoons“ heißt es in einem Song: Vielleicht funktioniert für die meisten das Ausbrechen am besten in einer abgespeckten Version, der etwas langweiligeren und kontrollierteren Schwester des Exzesses und der Weltflucht: Es ist gut, in einer Schulhausübernachtung für ein paar Stunden dem (All-)Tag zu entfliehen. Mit schnellen Schritten ein wenig weiter in ein ungewohntes Gewässer zu gehen, sich so weit vorzutasten, dass die Zehen den Boden nicht mehr berühren, und am Morgen wieder in die vertraute Welt mit ihren Zwängen zurückzukehren – in der man aber ein Stück weit besser weiß, wer man ist, zu wem man passt und was man dort will.

 

Marcel Proksch mit Marlene van Velsen