Im Meininger Theater wird aus Kinderspiel Kunst
„When I was young, it seemed that life was so wonderful
A miracle, oh, it was beautiful, magical (…)
Then they showed me a world where I could be so dependable
Oh, clinical, oh, intellectual, cynical.“
(Supertramp, The Logical Song)
„Der Kuckuck kann eigentlich gar nicht fliegen. Dafür ist er zu schwer“, meint ein Sechstklässler zu seinem Freund als er nach der Vorstellung etwas gedankenverloren im Meininger Stadtpark entlangschlendert. Das soll kein Shaming sein, sondern das ist einfach so: Dafür ist der Schauspieler zu schwer und die Flügel zu klein.
Aber das Gute ist: Der Kuckuck auf der Bühne des Meininger Theaters weiß nichts davon. Machen Sie doch einmal wie als Kind die Augen zu: Sehen Sie jetzt, wie er fliegt? Ganz da oben? Ja genau, da!
„A miracle, oh, it was beautiful, magical“: Es geht nämlich nicht immer um das verdinglichende Spiel, um Leistungen oder Ansprüche, in denen das Leben oft grau und verletzt erscheint. Das Meininger Theater bietet ihm entgegengesetzt einen der wertvollen Räume, in dem die klinische und intellektuelle Weltsicht für einen Moment aufgehoben werden kann. Wenn die Zuschauerin oder der Zuschauer auf ihrem oder seinem Stuhl Platz nimmt, überwindet sie oder er genau jene Grenzen ihres oder seines Verstandes: Erst das schöne Chaos des Magischen, Wundervollen und Hoffnungsgebenden kann uns wieder mit dem versöhnen, was uns ausmacht.
Als die Schülerinnen und Schüler der fünften und sechsten Klassen das Staatstheater Meiningen betraten, spürten sie genau das: Die Magie des großen Weihnachtsbaums, das Rampenlicht der Bühne und die verspielten übergroßen Küchenutensilien ließen sie vergessen, dass sie mit der anstrengend verkopften Schule dort waren.
Zwischen riesigem Nudelholz und der Zuckerdose standen Pfeffer, Salz, Kuckuck und der Teebeutel nicht still, bereit für eine abenteuerliche Reise, auf der gerutscht, getanzt und gesungen wurde. In deren Mittelpunkt stand das, was uns im wahren Leben als Erwachsene schwerfällt: Dinge zu reparieren und Neuanfänge zu wagen, Freundschaften zu schließen, wo vorher nur Misstrauen war und die verwandelnde Kraft der Gemeinschaft.
Eine Küchenregal-WG in der Krise
Punkt Mitternacht begann im Stück die Magie des Theaters zu wirken. Die zunächst leblos erscheinende Küche erwacht, und das zentrale Problem offenbart sich: Herr von Kuckuck, der Bewohner der imposanten Wanduhr, hat seine Stimme verloren. „Ich habe keine Stimme“, klagt der ältere Herr zu Beginn des Stücks. Statt des gewohnten melodischen „Kuckuck“ entweicht seiner Kehle nämlich nur noch ein Krächzen, das klingt, als hätte ein Rabe eine Erkältung. Ohne diese Fähigkeit befürchtet er das Schicksal, von den „großen“ Menschen ausrangiert zu werden. Die Nachricht von der Stimmkrise des Kuckucks verbreitet sich in der Küche so schnell, dass ihn die anderen Küchenbewohner in einem Zustand wohlorganisierter Panik helfen wollen.
In dieses Chaos platzt er hinein: Der Lebkuchenmann. Frisch aus dem Ofen der „Großen“, wie die Menschen ehrfurchtsvoll genannt werden. Die anderen Figuren sind fasziniert von dieser selbstbewussten neuen Erscheinung. Ohne zu zögern, stellt sich der Lebkuchenmann wie in einem Broadwaymusical selbstbewusst vor: „Hey, hey, Ich bin der Leb-, Leb-, Lebkuchenmann!“. Kaum geboren stürzt er sich in seine selbstgewählte Mission: Die Rettung von Herrn von Kuckucks Stimme, unterstützt von Enthusiasmus und Entschlossenheit. Deswegen wird er schnell zum Hoffnungsträger: Seine naive, aber mutige Art inspiriert die Anderen, aus ihrer Lethargie zu erwachen und aktiv nach Lösungen zu suchen. Sein Ziel ist klar: Er will Herrn von Kuckuck helfen, seine Stimme zurückzugewinnen.
Während die Anderen nur noch in ihrer Bedeutungslosigkeit kreisen, hat der Lebkuchenmann einen Plan: Er erfährt bald, dass ein geheimnisvoller Honig, der sich im oberen Regal befindet, die benötigte Linderung für Herrn von Kuckucks Stimmproblem sein könnte. Doch zwischen ihm und der ersehnten Linderung für die krächzende Stimme des Vogels steht der grimmige alte Teebeutel, der den Honig bewacht. Er ist verbittert wie ein in die Jahre gekommener Studienrat, emotional komplex und von Einsamkeit und Misstrauen geprägt: „Keiner mag mich“, gesteht er – und in diesem Satz schwingt eine tiefe Melancholie mit – doch unser frisch gebackener Held kontert mit entwaffnender Ehrlichkeit: „Vielleicht könnte ich dich mögen?“. In diesem Moment kippt die Stimmung. In dieser kleinen Geste des Mitgefühls liegt eine Kraft, die stärker ist als jede Barriere aus Misstrauen. Als er das gehört hat, blinzelt der grimmige Teebeutel schließlich überrascht, als hätte er seit Jahren kein freundliches Wort mehr gehört. Und so begann ein unerwartetes Bündnis zwischen dem süßen Lebkuchenmann und dem griesgrämigen alten Teebeutel – eine Allianz, die vielleicht nicht nur Herrn von Kuckucks Stimme retten konnte, sondern auch zwei einsame Seelen.
Daaaaaaaaaa ist er!
Gerade als man denkt, die größte Hürde sei überwunden, betritt Schlecker die Bühne, ein etwas wie Captain Jack Sparrow aussehender, aber nur halb so angetrunken kriechender Albtraum einer jeden Küche. Als Ratte ist er die unersättliche und gefräßige Verkörperung der unaufhaltsamen Gefahr für das Essen. „Du bist der leckerste, mit Smarties“, schnurrt er dem Lebkuchenmann entgegen. Er stellt eine ernstzunehmende Bedrohung dar, denn für ihn ist dieser Neuling nichts weiter als eine leckere Mahlzeit. Der Lebkuchenmann? Der hat zumindest auf den ersten Blick keine Chance. Er bleibt jedoch standhaft und zeigt, dass die wahre Stärke nicht in der körperlichen Größe, sondern im Mut liegt, sich seinen Ängsten zu stellen. Schließlich fängt die Küche Schlecker mit einer Spur aus Smarties ein. Und in dieser Situation war der Zuschauerraum gefüllt mit bunten Schaumstoffbällen, die die Schülerinnen und Schüler voller Energie durch die Gegend werfen.
Die Rettung kommt schließlich aus einer völlig unerwarteten Ecke: Der alte Teebeutel, geläutert durch die Freundschaft des Lebkuchenmanns, enthüllt sein über Jahrzehnte angesammeltes Wissen über heilende Kräuter. In dieser den Konflikt lösenden Szene, untermalt von musikalischen Klängen, bereitet er einen speziellen Aufguss zu.
Kuckuck!
Die Spannung im Publikum war greifbar, als Herr von Kuckuck den ersten Schluck nimmt. Dann, nach einer dramatischen Pause, die sich anfühlt wie eine Ewigkeit in Zeitlupe, erklingt es: „Kuckuck!“ – klar, melodisch und voller Lebensfreude. Dies war der erlösende Moment, der das gesamte Theater in einen schreienden Freudentaumel versetzte. Die gesamte Küchencrew, vom kleinsten Krümel bis zur größten Gewürzdose, feiert schließlich die Rückkehr von Herrn von Kuckucks Stimme.
Der Lebkuchenmann steht im Mittelpunkt des Jubels, denn er hat nicht nur einen Kuckuck gerettet, sondern eine ganze Gemeinschaft zusammengeschweißt. Auch beim Schlusslied „Le-, Le-, Lebkuchenmann“ brodelte die Energie der Schülerinnen und Schüler, die eine Zugabe forderten und sie wie bei Silbereisens Schlagershows durch eine Wiederholung des prägnanten Refrains bekamen. Also – bäm – noch einmal: „Le-, Le-, Lebkuchenmann, Le-, Le-, Lebkuchenmann!“.
Ein Happy End? Vielleicht. Aber vor allem ein neuer Anfang für eine Gemeinschaft, die gelernt hat, dass man manchmal nur einen alten Teebeutel braucht, um die Welt zu verändern. Wer das Theater nach dieser Vorstellung verlässt, wird nie wieder mit den gleichen Augen in seine Küche schauen. Und vielleicht, nur vielleicht, hört man nachts ein leises Rascheln und Flüstern zwischen den Regalen. Dann ist es besser, schnell das Licht auszumachen – man möchte die Magie ja nicht stören.
Marcel Proksch
Fotos: Christina Iberl / Staatstheater Meiningen
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