Am Holocaust-Gedenktag mit Schülerinnen und Schülern dahin, wo es still ist
„Betet für uns und gedenket unserer, erzählet es euren Kindern wieder, wie wir zu Tode gepeinigt wurden.“
– Gretel Klein, am 22. April 1942 aus Bad Neustadt deportiert
Schweigend standen die Schülerinnen und Schüler der Klassen 8a und 10a am 27. Januar 2025 am Denkmal für die Jüdinnen und Juden in der Bauerngasse in Bad Neustadt, dem Holocaust-Gedenktag, an dem sich die Befreiung von Auschwitz zum achtzigsten Mal jährte. Die Inschrift rief das Schicksal der neunundfünfzig jüdischen Bürgerinnen und Bürger Bad Neustadts ins Gedächtnis, die am 22. April 1942 von hier aus in den sicheren Tod transportiert wurden. Die Jugendlichen lasen die Namen der Menschen, die einst zu Nachbarn, Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen gehörten, und erfuhren von den unerträglichen Umständen ihrer Deportation. Nach jüdischer Tradition legten sie anschließend Steine am Denkmal nieder. Es war ein Moment der Stille, die im besten Fall Fragen stellt.
In Bad Neustadt ist die über Jahrhunderte wirkende Geschichte der Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Bürgerinnen und Bürger tief in den geschichtlichen und regionalen Kontext der Stadt verwoben. Vom Rintfleisch-Pogrom des Mittelalters bis zur systematischen Deportation im Dritten Reich bietet unsere Kleinstadt ein Beispiel dafür, wie sich antisemitische Gewalt über Jahrhunderte ausdrücken konnte. Heute erinnern Mahnmäler wie das in der Bauerngasse an die Opfer, während die ehemalige Synagoge als Wohnhaus die Spuren dieser Vergangenheit trägt. Mit dem Gang zum Denkmal für Jüdinnen und Juden hat das Gedenken an diese Gewalt für die Schülerinnen und Schüler eine neue Aktualität erhalten, zumal Antisemitismus auch in unserer heutigen Gesellschaft eine reale Herausforderung bleibt.
Der Begriff „Holocaust“ leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutete ursprünglich „Brandopfer“. In der heutigen Erinnerungskultur steht er für die systematische Vernichtung von etwa sechs Millionen Jüdinnen und Juden, über fünfhunderttausend Sinti und Roma, queeren Menschen, Menschen mit Behinderung und politische Gegner während der nationalsozialistischen Diktatur. Niemand von ihnen kehrte je zurück.
Dies mahnt uns, dieses größte Verbrechen in der Geschichte der Menschheit #niewieder zu vergessen. Alleine die Tatsache, dass das Denkmal für Jüdinnen und Juden in der Bauerngasse in nicht einmal fünfzehn Gehminuten von der Wirtschaftsschule entfernt steht, verdeutlicht, dass der Holocaust nicht nur ein abstraktes, fernes Verbrechen war, sondern auch in unsere Straßen, Häuser, Vereine und Kirchen hineinreichte. Die Klassen 8a und 10a gedachten während einer kurzen Ansprache den Mitbürgerinnen und Mitbürgern jüdischen Glaubens, die einst Teil des „Wirs“ der Neuschter Stadtgemeinschaft waren – bis sie unter Spott und Hohn aus ihrer Heimat getrieben wurden. Es mag beklemmend sein sich dieser Tatsache zu stellen, dass Gleichgültigkeit und stilles Mitläufertum hier wie überall den Boden dafür bereiten konnten.
Auschwitz steht heute als Synonym für den Holocaust. Es war das Symbol eines industriell vollzogenen, bürokratisch durchdachten und administrativ verwalteten Massenmordes. Über 1,1 Millionen Menschen, darunter eine überwältigende Mehrheit jüdischer Herkunft, verloren dort zwischen 1940 und 1945 ihr Leben. Die Gaskammern und Krematorien von Auschwitz-Birkenau sind zum Inbegriff industriellen Tötens geworden; doch Auschwitz war nicht allein: Am 22. April 1942 wurden 59 jüdische Menschen aus Bad Neustadt, Oberelsbach und Unsleben deportiert. Sie wurden zunächst nach Würzburg und von dort weiter in die Vernichtungslager bei Lublin gebracht. Die Konzentrations- und Vernichtungslager, die im gesamten von den Nationalsozialisten kontrollierten Europa verstreut waren, zeigen, wie systematisch und umfassend das Vernichtungswerk betrieben wurde. Dies macht den Holocaust zum größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit.
Die tödlichen Räumungen von Auschwitz im Januar 1945 markieren einen düsteren Schlussakt des Lagers. Als die sowjetische Rote Armee näher rückte, trieb die SS rund sechzigtausend Häftlinge auf sogenannte „Todesmärsche“. Bei extremen Kälte- und Hungerbedingungen starben Tausende – durch Erschöpfung, Erfrieren oder gezielte Erschießungen durch die SS. Nur etwa siebentausendsechshundert Menschen, zu schwach, um evakuiert zu werden, wurden im Lager zurückgelassen, als die Befreier am 27. Januar ankamen. Die meisten waren körperlich so schwer geschädigt, dass viele wenige Tage später ihren Verletzungen und der Entkräftung erlagen. Primo Levi, ein Überlebender des Lagers, beschrieb in seinen Memoiren die emotionale Leere, die in diesen Momenten vorherrschte: Das Grauen hatte die Fähigkeit zu fühlen längst ausgelöscht.
Der 27. Januar wurde deshalb – nicht zuletzt auf Initiative von Ignatz Bubis, des Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland – zum offiziellen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus erklärt. Für die Bildungsarbeit ist dabei die Kritik des Soziologen Michal Bodemann wichtig zu bedenken: Es sei problematisch, so Bodemann, dass der Fokus auf die Befreiung von Auschwitz gelegt werde, da dies Deutschland eher in die Rolle der moralischen Verbündeten der Opfer setze, als auf die deutsche Täterschaft hinzuweisen. Bodemanns Einspruch erinnert daran, dass jedes Gedenken das Potenzial trägt, vorschnell abgeschlossen zu werden. Die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit darf kein feierlicher Schlusspunkt sein, sondern muss der Beginn eines dauerhaften Prozesses sein, der unbequem bleibt und fordert.
Die Philosophie Theodor W. Adornos bietet einen Schlüssel, um die Bedeutung dieses Prozesses zu verstehen. In seinem Vortrag „Erziehung nach Auschwitz“ betonte er, dass Auschwitz nicht einfach als Moment in der Geschichte verstanden werden dürfe. Vielmehr sei es als Katastrophe der Zivilisation zu begreifen, die uns zwinge, die Grundlagen von Bildung, Moral und Gesellschaft zu hinterfragen. Adorno warnte davor, dass die Kultur, die Auschwitz hervorgebracht habe, nicht sicher sei vor Wiederholungen. Erziehung, so Adorno, müsse primär darauf abzielen, zu verhindern, dass sich der Holocaust oder ähnliche Grausamkeiten jemals wiederholen können. Dies bedeutet nicht nur, Wissen zu vermitteln, sondern auch Empathie und die Fähigkeit zum kritischen Hinterfragen aufzubauen. Der Gedenktag zum Holocaust bietet Schülerinnen und Schülern Gelegenheit sich genau mit diesen Anliegen auseinanderzusetzen.
Wie Bodemann weiter kritisch anmerkt, droht die Erinnerungskultur des Öfteren in ihrer formelhaften Ausgestaltung oft zu einer Beliebigkeit zu werden, in der sie als Selbstbedienungsladen nur noch oberflächliche moralische Sicherheit bietet. Ein echter Umgang mit der Vergangenheit erfordert es, den Holocaust nicht als abgeschlossenes Kapitel zu betrachten, sondern als permanenten Prüfstein unserer Werte.
„Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über tausend Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ sagte etwa Alexander Gauland. „Immerhin haben wir jetzt so viele Ausländer im Land, dass sich ein Holocaust mal wieder lohnen würde“, hieß es von einem politischen Funktionär an anderer Stelle. Solche radikalen Aussagen und das Nachdenken über die immer lauter werdenden Rufe nach einem „Schlussstrich“ unter die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit zeigen, dass Erinnerung und Verantwortung untrennbar miteinander verbunden sind. In politischen Verhältnissen, in denen rechtspopulistische Kräfte Revisionismus und Geschichtsrelativierungen propagieren, ist die Sensibilisierung der Schülerinnen und Schüler für diese Themen unverzichtbar. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit muss von uns aktiv in unser Denken und Handeln integriert werden. Es genügt nicht, einmal jährlich zu gedenken, denn Haltung und Verantwortung sind alltägliche Aufgaben.
Am Holocaust-Mahnmal in Bad Neustadt, mit den Namen der Opfer eingraviert, wurde deutlich, dass Geschichte nie vergangen ist, sondern Spuren hinterlässt, die gelesen und verstanden werden müssen. Die Worte der Deportierten, wie die des Abschiedsbriefes von Gretel Klein, hallen nach: „Betet für uns und gedenket unserer“ ist ein bindender Auftrag an uns, für eine Welt zu kämpfen, die diese Gewalt #niewieder geschehen lässt. Frieden wächst nur dort, wo Vielfalt respektiert wird: Der Besuch am 27. Januar sollte für die Schülerinnen und Schüler der Klassen 8a und 10a ein Ausgangspunkt sein – in einem Prozess, der jede Generation aufs Neue fordert.
Marcel Proksch
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