Magische Momente in der Manege
Sich zu zeigen – das ist das Schwerste in einer fünften Klasse, in der Mut noch tastet und Lautstärke tarnt, wie schnell das Herz eigentlich schlägt. Eine Woche lang probten unsere Fünfklässlerinnen und Fünftklässler Figuren und Fehlversuche nebeneinander: Jonglierbälle fielen, Pyramiden brachen und doch wuchs etwas, das keinen Applaus braucht, um echt zu sein: Vertrauen – in sich und in die eigenen Fähigkeiten. Manchmal war es die härteste Prüfung für eine Woche von den Eltern getrennt zu sein.
Stille wurde zum Kommando
Am Donnerstagabend hing Müdigkeit wie ein schweres Tuch über die Gruppe: „Ich freu mich schon auf zuhause“, sagte einer der Schüler auf dem Weg zum Zirkuszelt und niemand widersprach. Oben angekommen saß Zirkusdirektor Lui im Lärm des Restaurationszeltes still wie eine gesetzte Markierung im Raum, die Arme verschränkt, der Blick ein Punkt – kein Wort, kein Lächeln, nur ein unsichtbares Kommando, das von immer mehr Schülerinnen und Schülern verstanden wurde.
Wunderkerzen und Süßigkeiten
Nach und nach verstummten die Stimmen, als würde die Luft alle Töne aufräumen, und hier setzte die ikonischste aller Szenen ein. Lui stand auf, als die Schülerinnen und Schüler ruhig wurden und das Zelt verstand: Jetzt war es soweit. Die Kinder traten durch die Zeltwand ins warme Innere, Wunderkerzen flammten auf, und in diesem Licht wirkte selbst die Aufregung der vergangenen Tage wie eine Choreografie – als wäre es nicht um Nummern und Netze gegangen, sondern vielmehr um den Umgang mit der eigenen Unsicherheit, sich zu zeigen, ohne zu wissen, wie man landet.
Now I see fire Inside the mountain And I see fire Burning the trees
Ed Sheeran
Aus den Boxen erklang die warme Stimme von Ed Sheeran. Die Schülerinnen und Schüler versammelten sich im Zirkuszelt schließlich im Halbkreis. In deren Mitte trat Lui fast ehrfürchtig, als müsse er das Wort Premierenfeier vorsichtig entstauben, bevor er es sagen darf, worum es ging. Dann verschwand er hinter der Manege und zog einen mattschwarzen Vorhang auf. Plötzlich sahen die Schülerinnen und Schüler auf zwei Bierbänken das Wort Zirkus aus Süßigkeiten gelegt. So banal wie schön begann der Abend, als sie diese Tische ungläubig angeschaut haben: „Als einer aus der anderen Klasse eine Süßigkeit genommen hat, hat jeder eine Süßigkeit genommen“, beschreibt ein Schüler die Situation.
Die Einmaligkeit des Augenblicks
Die darauf folgende Premierenfeier war einer der magischen Höhepunkte einer anstrengenden Zirkuswoche. In der krachte es plötzlich überall: Lichter, Bass und Bewegung bildeten eine Einheit. „Cotton Eyed Joe“ stampfte durch das Zelt, die Kinder tanzten, kreisten, schrien und lachten. Udo Lindenberg traf auf Zah1de. Alles im Zelt wurde laut, echt und endlich egal. Irgendwer grölte „heute ist so ein schöner Tag“, und das stimmte vielleicht auch. Der Abend schmeckte nach einer Woche, die so niemand erwartet hatte.
Aber alles von Anfang an.
Ankunft im Nebel des Ungewissen
Es war Montagmorgen, als sich der Bus mit den Schülerinnen und Schülern und den Tutorinnen und Tutoren am Kaufland in Bewegung setzte. „Die Busfahrt war langweilig“, erinnerte sich ein Schüler der 5a an die Hinfahrt zum Volkersberg und die Rhöner Landschaft reagierte beleidigt mit einem herbstlich-neblichen Nieselwetter. Magie beginnt eben selten in einem Reisebus ins Nirgendwo.
Lampenfieber und Lakenbezug
Schließlich war die Gruppe am Volkersberg angekommen. Während die Lehrerinnen und Lehrer mit ihrem antrainierten Habitus des höflichen Nickens durch das Haus Volkersberg geführt wurden, schleppten die Schülerinnen und Schüler ihre Koffer und Rucksäcke in die Hütten und drehten erst einmal die Heizung auf. Dann begann der erste Kampf beim Bettenbeziehen mit zerknitterten Laken und Versuche, das Kissen in den Bezug zu stopfen. Kaum geschafft, rief jemand, dass es losgeht.
„Wir mussten jeden Tag einen Berg hochlaufen. Es war sehr anstrengend“, fasste eine Schülerin die anfängliche Grundstimmung gut zusammen, und in ihrem Ton schwang dieses kleine bisschen Stolz mit, das unterhalb des Jammerns wohnt. Oben auf einer Anhöhe stand das große und rot-weiße Zirkuszelt. Abends leuchtete es in den Himmel, und plötzlich wirkte es in dieser Atmosphäre für viele so, als könnte man in diesem langweiligen Rhöner Nirgendwo tatsächlich ein paar Tage bleiben.
Die Kennenlernphase
Im dämmrigen Licht des Zeltinneren lernten die Schülerinnen und Schüler ihre Teamerinnen kennen: Paloma, Angelika und Shakira, deren Namen mehr nach einem interessanten Projekt klangen als das „Herr“ und „Frau“ des sperrigen Schulpersonals. Sie waren streng und freundlich zugleich und wussten, wann es genug der Witze waren. Lui stand im Zelt meistens daneben, ruhig mit einer Autorität, die nicht zur Diskussion stand. „Er redet erst, wenn alle ruhig sind“, erinnerte sich ein Schüler an eine der Regeln. Dann erklärte er in einer tiefen, sonoren Stimme weitere Vorgaben und dabei vor allem die, die bleiben könnten, wenn man sie bricht: „Man darf nicht an den Stangen klettern“.
Sichtbarkeit und Verborgenheit
Dann begann das Schnuppertraining: Drahtseil, Clown, Diabolo, Seilspringen, Jonglage und Parterrespringen standen zur Auswahl – alles nebeneinander und für jeden und jede möglich. „Am ersten Tag haben wir angeguckt, was wir wollen. Ich habe Diabolo genommen und Seilspringen“, schrieb Aurelio wie jemand, der wusste, dass seine Entscheidungen zählen. Leonardo landete bei der Jonglage, warf Bälle in die Luft und fand dabei Lennart, seinen neuen Freund. „Das Training war cool“, fasste er die Tage zusammen. Und diesem Satz lag eine Wahrheit zugrunde, die kein Erwachsener je zugeben würde: Etwas selbst als cool zu empfinden ist an manchen Tagen gut genug. Lui saß bei so manchem Training auf einer Kiste, Beine ausgestreckt, mit strengem und stillen Blick. Nichts entging ihm, zumindest wirkte es so.
Die Tage wurden länger und die Muskeln bei den körperlich anstrengenden Zirkusnummern müder. Doch am Volkersberg passierte etwas, das man nicht trainieren kann: „Mit Freunden macht alles mehr Spaß“, schrieb einer der Schüler. Leonardo jonglierte irgendwann mit drei Bällen, später mit einem Partner. Niemand klatschte, aber Lui nickte. Das reichte.
Tee ist geil, Alter!
Nicht nur der Zirkus, auch der Alltag wollte trainiert werden. Elke richtete jeden Tag drei Mahlzeiten. Die Schülerinnen und Schüler übernahmen anschließend den Küchendienst: Das Geschirr saubermachen und trocknen, den Boden fegen – nichts Glamouröses, aber eine dennoch irgendwie verbindende Aufgabe.
Vor den Mahlzeiten wurde in kleinen Chören gegen das Bauchknurren angesungen: „Zum Wohle!“. Die besten Darbietungen wurden mit einem schnellen Zugang zum Essen belohnt. Juliano landete dabei zum Beispiel regelmäßig unter stolzem Blick unter den ersten drei Plätzen. Ein anderer Schüler rief plötzlich „Tee ist geil, Alter!“ – manche Wahrheiten kommen nicht leise, sondern mit Krümeln im Mund zum Vorschein. Zum Abschluss des Essens gab es den Getränketausch: Leere Flaschen wurden abgegeben, neue geholt. Das war wie Routine im Ausnahmezustand. Am Abend sang das Zirkusteam, bevor die Schülerinnen und Schüler entlassen wurden: „Guten Abend, liebe Kinder“, und die Kinder antworteten pflichtbewusst: „Guten Abend, liebe Erwachsenen“.
Wo Legenden wuchsen
Doch das eigentliche Leben passierte woanders: Nicht im Zirkuszelt, wo jeder Schritt gezählt und jede Bewegung erklärt wurde, sondern in den Hütten, dicht gedrängt, laut und durcheinander.
Im schummrigen Licht, zwischen schlecht gelüftetem Bettgeruch und zu viel Maoam, begann jeden Abend eine Challenge um die schönste Hütte – dachten die Schülerinnen und Schüler. In Wahrheit ging es aber um den Zustand der Schlafplätze – aber so viel triste pädagogische Zweckrationalität der Erwachsenen braucht man ja Kindern nicht mitteilen.
Im Tumult wurden Legenden geboren, die vielleicht noch bis zur Abschlussklasse zitiert werden: Der Stuhl, der einer Schülerin weggezogen wurde, weswegen sie zu Boden plumpste. Die Jungs, die „Randale“ an der Mädchentür machten als wollten ein paar übermütige Kens das Barbieland stürmen. Und jemand zerstörte um sechs Uhr morgens mit einer Taschenlampe die letzte Hoffnung auf Schlaf. Zwischendurch gab es das Gerücht, dass Teamerinnen beim Vapen erwischt wurden. Ein Hauch von Skandal, der schön genug war, um die Nacht spannend zu halten.
„Wir hatten einen ganzen Tisch voll Naschsachen“, sagte Eva als wäre das bereits ein Weltrekord. Abends, wenn draußen die Kälte an den Hüttenwänden kratzte, verschwanden Salzstangen, Schokoriegel – und angeblich auch ein paar Quetschies aus dem Vorrat der Tutorinnen und Tutoren. Niemand hatte den Diebstahl je zugegeben, was ihn bestätigte.
Die Nacht, in der rote Augen glühten
Nach so viel Zucker konnte die eine oder andere Nacht unruhig werden. Die Fantasie tat, was sie am besten kann: Übertreiben. In der Dunkelheit glühten „rote Augen“ zwischen Grusel und Steuerung des Bedienelements der Heizung. Wahrscheinlich waren sie letzteres, aber das machte die Fantasie der Schülerinnen und Schüler nicht besser. Am Volkersberg war nachts alles ein bisschen gespenstisch: Der Nebel dick, die Luft still, und die ein oder andere Tür plötzlich schauererregend offen. Und die Herzen in der Hütte – ganz kurz – ein Trommelwirbel.
Vertrauen ohne Netz
Zwischendurch gab es Handyzeit: Minuten am Abend, in denen die umtriebige Hüttenlandschaft zu einem Callcenter der Sehnsucht wurde. Stimmen rauschten nach Hause und Mütter fragten: „Na, alles gut?“ – und meistens war schon alles gut, außer eben manchmal. Dann war Frau Spachmüller zur Stelle, sanft wie pragmatisch, die Tränen nicht kleinredete, sondern den Schülerinnen und Schülern ausdauernd zur Seite stand.
Aber nun zu den schönen Seiten: Der Süßigkeitenautomat in der Nähe des Gemeinschaftsraums wurde schnell entdeckt und zur heimlichen Heimat mancher Schülerinnen und Schüler. Seine Nutellasticks bildeten eine neue Währung und waren Trost zugleich.
Und dann waren da die Geburtstage: Tutor Lukas erhielt eine viel zu große, aber dennoch perfekt sitzende Papierkrone. Später wurde noch ein Schüler gefeiert, für den die Küche ein Kinder Bueno mit Kerze servierte. Die Flamme flackerte schief, die Gruppe stimmte ein Geburtstagslied an, alle klatschten – und für einen kurzen Augenblick war alles hier gleichzeitig so, wie es nirgends auf der Welt, sondern nur hier in diesem Rhöner Nirgendwo sein kann: Seltsam, süß und echt.
Als die Welt kurz zitterte
Am nächsten Tag war es soweit: Die Aufführung stand an. Eltern saßen im Publikum, Kinder standen im Ausnahmezustand. Vorher noch duschen – Hygiene war die Pflichtübung der Disziplin. „Ich war nervös und mir war richtig kalt. Ich musste die ganze Zeit am Vorhang stehen und die Kinder rein und raus lassen“, schreibt Jonas, als hätte die Welt genau in diesem Moment kurz gezittert.
Dann das Licht, die Manege, die Musik und plötzlich passierte es: Aus müden Fünftklässlerinnen und Fünftklässlern wurden Heldenfiguren: Hulks, Drachen, Phönixe – und mit ihnen waren Schülerinnen und Schüler für ein paar Minuten größer als ihr Alltag. Die Nervosität verschwand mit der Aufführung, als hätte sie nie existiert. Elias sprang mit dem Seil konzentriert und leicht. „Es hat auch gut geklappt“, resümierte er nüchtern. Vielleicht hat er gerade Magie erlebt ohne es zu merken. Amelie kletterte aufwärts: „Ich war einmal ganz oben bei einer Dreier-Pyramide und dann war ich endlich nur noch in der Mitte“, schrieb sie erleichtert. Und Jonas, für einen Moment ganz oben am Trapez, vergaß, dass er eigentlich friert. „Es war schön, so weit oben zu stehen“, schreibt er, als hätte er kurz die Perspektive gewechselt – nicht nur körperlich.
Der Applaus kam wie ein warmer Wind, aber das Finale war die letzte kleine Zumutung: barfuß, ohne Jacke, Spalierstehen für die Eltern. „Das war richtig kalt“, schrieb eine Schülerin, und dann, fast trotzig: „Das war richtig cool.“ Vielleicht sind Kälte und Coolness die beiden Seiten derselben Medaille.
Dann kam das Ende: Kostüme wurden wieder in großen Containern verstaut, Schminke im Waschbecken abgespült und auch die Stimmen wurden langsam leiser und weniger. Die Tutorinnen und Tutoren zogen Bilanz: Die Klasse habe sich gefunden, hieß es. Klingt nüchtern und doch stimmt es. Manchmal wächst Gemeinschaft nicht im Licht, sondern im Lampenfieber.
Die Heimfahrt
Die Magie der Aufführung verpuffte schließlich mit jedem Kilometer im meist überdimensionierten und gut geheizten Auto der Eltern. Am Ende blieb vom Zirkus die Erinnerung: der Lärm der Hütten, das Licht der Manege, die Müdigkeit, die auch etwas mit Glück zu tun hatte. Dazu ein entzündeter Zeh, ein kleiner Muskelkater und die überraschende Erkenntnis, dass man auch zu zweit jonglieren kann.
Die Magie der Unvollkommenheit
Sich zu offenbaren, bedeutet Mut haben zu müssen – ob im Kreis der Freunde, unter grellem Scheinwerferlicht oder vor der Smartphone-Kamera der Eltern. Doch gerade dies birgt eine Gefahr: Wenn alles sichtbar, berechenbar und kontrolliert ist, bleibt kein Raum mehr für Fantasie, Intuition oder Überraschung. Vielleicht war genau das das Schöne an der Aufführung – dass sie sich nicht messen, wiederholen oder streamen ließ. Sie gehörte der Klasse in ihrer Unvollkommenheit und Einmaligkeit.
Und dann kam Tage später dieser eine Satz, aufgeschrieben von Jonas: „Es war ein schönes Erlebnis“. Mehr kann man in dieser Endgültigkeit, wenn alles gut läuft, über sein Leben bestimmt auch nicht sagen.
Mit Dank an die Tutorinnen und Tutoren für ihre Teilnahme an der Projektwoche.
Marcel Proksch