„Reading fiction not only develops our imagination and creativity; it gives us the skills to be alone. It gives us the ability to feel empathy for people we've never met, living lives we couldn't possibly experience for ourselves, because the book puts us inside the character's skin.“
Ann Patchett Tweet
Wenn Menschen den Klang von Pausengong, Kopierern und die nie endenden Worte von Schule und Lohnarbeit abschütteln, die Unterrichts- oder Stempelzeit im Nacken, und durch die Glastür der Stadtbibliothek Bad Neustadt treten, wechseln sie nicht nur den Ort, sondern kurz die Welt. Die schlechte Nachricht: Stille gibt es nicht auf Knopfdruck, schon gar nicht per Türscharnier. Die gute: Man kann lernen, den Blick von all dem Geblinke und Gebrülle abzuziehen und auf die Ruhe dahinter zu richten.
Diesen Versuch unternahm im Dezember die Projektgruppe Kultur, als sie ihren Weg in die Bibliothek unweit des Bad Neustädter Marktplatzes als entspannenden Ausstieg aus dem Rest der Welt verstand.
Zwischen Regalen lagern nicht nur Bücher und Datenträger, sondern eine Konzentration, die irgendwo zwischen Handybenachrichtigung und TikTok-Doomscrolling verloren gegangen ist. Wer an den Arbeitsplätzen der Stadtbibliothek sitzt, probt das selten gewordene Kunststück, bei einer Sache zu bleiben, ohne sich dabei permanent selbst zu unterbrechen.
Die Ordnung der Dinge
In der Bibliothek stand zunächst nicht die große Erleuchtung, sondern eine kleine Frage im Raum: „Wie bitte findet man hier eigentlich irgendwas?“ Also folgten die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler der Projektgruppe den kryptischen Signaturen, schoben sich von Jugendbelletristik zu trockenen Sachbuchregalen, streiften an Arbeitsplätzen vorbei und tasteten sich in die Zonen vor, in denen das ungeschriebene „Bitte leise“ mehr Drohung als Bitte war.
Im OPAC tippten die Jugendlichen ihre Suchbegriffe ein und sahen zu, wie ihre vagen Themen in die sehr konkrete Logik eines Systems übersetzt wurden. Begriffe, Kategorien, Regale – das sind alles kleine Versuche, Chaos handhabbar zu machen. In der Bibliothek wird dieses Denken sichtbar: Medien mit ähnlichem Inhalt kleben räumlich zusammen, Fachgebiete trennen sich brav, Signaturen tun so als sei Ordnung nicht nur möglich, sondern selbstverständlich.
Aber wie jede Ordnung hat auch diese einen Haken: Sie lügt nicht nur ein bisschen, sondern sehr. Ein Buch über Klimawandel könnte genauso gut unter Umwelt, Politik oder Naturwissenschaft stehen – als hätte die Wirklichkeit jemals gefragt, in welche Zeile sie gehört. Die Bibliothek zeigt in ihrer Sortiertheit auch ihre eigene Begrenzung: Jede Kategorie ist eine Vereinfachung, und alles, was nicht hereinpasst, fällt zwischen die Regalbretter.
Bewegliche Sprache als Erkenntnismittel
Und genau dort beginnt die eigentliche Arbeit. Die Jugendlichen saßen in diesen Kategorien vor einem Übermaß an Informationen: Sachbücher mit klappernden Schutzumschlägen, aufgerissene Zeitschriften, dazu der endlose Strom der Online-Artikel. Schnell merkten sie, dass kein Text einfach nur „die Wahrheit“ erzählt, sondern immer nur eine Version davon – mal ergänzend, mal scharf widersprechend. Und dies führt zu entscheidenden Fragen: Welchen Informationen traue ich überhaupt? Ist das noch aktuell oder schon veraltet? Wer schreibt hier – und wozu?
Sprache als Macht und Kooperation
Doch die Suche nach verlässlichen Informationen war nur die eine Herausforderung. Die andere lag in der Bibliothek selbst. Aus der Frage nach der Glaubwürdigkeit einzelner Quellen entwickelte sich eine grundsätzlichere Beobachtung: Bei der Suche nach einem Buch, das sie wirklich ansprach, stellten die Jugendlichen fest, dass die Regale alles andere als neutral sind. Manche Geschichten drängen sich auf, stehen mehrfach, mit bunten Covern und Fortsetzungen, andere tauchen – wenn überhaupt – irgendwo am Rand auf. So schob sich die Frage in den Raum: Wer kommt hier eigentlich dauernd zu Wort – und wer fast nie?
Denn eine Bibliothek ist nicht nur ein Haus voller Papier, sondern ein Archiv dessen, was Menschen für bewahrenswert hielten – und ein Spiegel dafür, wer überhaupt die Mittel und die Erlaubnis hatte, seine Erfahrungen aufzuschreiben. Indem die Schülerinnen und Schüler Bücher suchten, in denen ihre eigene Lebensrealität vorkommt, trainierten sie so etwas wie literarisches Selbstbewusstsein: Die Einsicht, dass ihre Perspektive kein Störgeräusch, sondern ein legitimer Teil dieser Sammlung ist.
Und je genauer sie hinsahen, desto klarer wurde: Es lohnt sich, nicht beim ersten Treffer stehenzubleiben, sondern gezielt nach Stimmen zu suchen, die sonst im Grundrauschen untergehen. Wer im Regal nach den leisen, seltenen Büchern greift, übt ganz nebenbei Widerstand gegen eine Welt, in der immer dieselben Geschichten Nachdruck bekommen.
Von der Stille zum Handeln
Eine Zeit in der Bibliothek kann eine Art Generalprobe für den Auftritt draußen sein. Hier können Jugendliche lernen, dass Sprache nicht nur Deko ist, sondern Werkzeug – im besten Fall ein ziemlich scharfes, mit dem sich Gespräche, Referate oder irgendwann vielleicht sogar unser Zusammenleben ein bisschen weniger schlimm machen lassen. Es geht dabei weniger darum, alle Kommaregeln zu beherzigen, als darum, einen Gedanken so klar hinzustellen, dass andere ihn sehen können – ohne dabei die Position der anderen kleinzuhacken.
Und wenn die Tür wieder aufgegangen ist und der Lärm von außen zurückgekehrt ist, nahmen die Jugendlichen im besten Fall etwas mit, das bleibt: Die Ahnung, dass sie mit ihren Worten mehr tun können, als nur Praktikumsberichte oder Deutschaufsätze zu tippen.
Marcel Proksch