„And I wanna cry and I wanna love, but all my tears have been used up, on another love“
– Tom Odell, Another Love
Bewegte Musik pulsierte durch den Raum, während auf der Bühne ein verzweifelter Ruf erklang: „Jacky! Please stay! I want you. I need you“. Bereits diese Eröffnungsszene riss hundertsieben Schülerinnen und Schüler aus den Abschlussklassen und der Klasse Z10c aus ihrer Alltagswelt. Was diese Sätze zu bedeuten hatten, erfuhren die Zuschauenden erst später.
Teenager in XXL-Hoodie
Die Inszenierung begann anschließend nicht mit sanften Tönen, sondern warf das Publikum mitten hinein in eine Geschichte über Freundschaft, erste Liebe und die quälende Unsicherheit des Erwachsenwerdens. Auf der spärlich beleuchteten Bühne, die ein ungemachtes Bett aus einem Kissenmeer zeigte, lernten die Schülerinnen und Schüler Pascal kennen, einen Jungen, der sich am liebsten so lange unter seiner Decke verkriechen würde, bis er erwachsen ist. Er war kein strahlender Held, sondern ein unsicherer Teenager, der sich hinter XXL-Hoodies versteckte und verzweifelt versuchte, sich nicht zu verlieben: „Wenn ich mich jetzt verlieben würde, das wäre eine Katastrophe“, erklärte in verletzlicher Ehrlichkeit. Gleichzeitig ist Pascal in der Enge seiner trostlosen Kleinstadt gefangen. Sein Monolog über seine Unlust, sich zu verlieben, und der peinliche erste Kuss mit Sandra aus der Parallelklasse, sorgte für die ersten nachdenklichen Gesichter. Als er seinen Spitznamen „Krüger“ erwähnte, den er seit einem demütigenden Vorfall im Sportunterricht trug, spürte jeder und jede der Zuschauenden die Last eines bestens gehüteten Geheimnisses, das schwer auf seinen Schultern lag.

Die Dynamik änderte sich schlagartig mit dem Auftritt von Viktor, Pascals bestem Freund. Mit einer explosiven Energie stürmte er auf die Bühne, sprang auf Pascals Bett und riss ihn und das Publikum aus der Lethargie. Ihr eingespielter Begrüßungshandschlag, der „Schnippsinger“, und Viktors selbsterfundenes Lieblingswort „verpicht“ – eine Mischung aus verpeilt und dicht – zeichneten das Bild einer vertrauten, wenn auch ungleichen Freundschaft. Viktor war der Motor, Draufgänger und ewiger Rebell, der gegen die Strenge seines Vaters und die Langeweile ihres Heimatortes Bodenstein rebellierte, einem Ort, an dem „nicht mal der Hund verreckt“. Dieses ehrliche Bild der kleinbürgerlichen Provinz zog sich durch die Vorführung: Bodenstein wurde nicht als romantisierter Sehnsuchtsort gezeichnet, sondern als ein Nichts mit 9.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, offener Arbeitslosigkeit und einem Sportheim voller Nazis.
Die Dialoge zwischen den Beiden wirkten schnell, witzig, wenn auch leicht melancholisch und etwas grotesk überzeichnet. Man spürte darin die verzweifelte Sehnsucht der Teenager, aus dem Trott auszubrechen, sei es durch das Austragen von Zeitungen, durch waghalsige Fahrrad-Challenges oder den Traum von einer Party bei den unerreichbaren „Göttinnen“ Anna und Ayla.
Das Mädchen mit den feuerroten Haaren
Der Wendepunkt der Geschichte – und des Theatervormittags – kam mit Jacky. Das Mädchen mit den feuerroten Haaren erschien wie ein Komet auf der Bühne, wild, frei und kompromisslos. Während eines Streifzugs durch eine Kaufhausfiliale krachte sie mit wütenden, wasserblauen Augen in beide hinein. In dem Chaos stahl sie ein Handy – das legendäre Nokia 3210, dessen unkaputtbaren Wert die heutige Schülerinnen- und Schülergeneration nicht mehr kennen dürfte – und schnappte sich versehentlich Pascals Rucksack, und damit sein Notizbuch, sein größtes Heiligtum. Diese Szene war voller Stroboskopeffekte, hektisch und panisch, untermalt von treibender elektronischer Musik. Jacky strahlte eine wilde, unzähmbare Energie aus und war ein Fremdkörper in der Tristesse von Bodenstein. Sie war für die beiden Protagonisten damit ein Versprechen auf Abenteuer und Gefahr.

Die drei Lebenslinien
Die Suche nach dem Rucksack führte die beiden Freunde zum Zirkus „Mondo Intero“, der am Rande der Stadt gastierte. Die Bühne voller blauer Kissen und herunterhängenden Leuchtgirlanden veränderte sich kaum, verwandelte sich aber in ein magisches Zirkusgelände. Hier fanden sie Jacky beim Messerwerfen wieder. Die Spannung erhöhte sich, als sie mit Präzision die Messer in eine imaginäre Figur schleuderte. Anschließend brachte Jacky Pascal das Messerwerfen bei. „Du musst im Hier und Jetzt sein“, forderte sie ihn auf, während sie seine Hand führte. Jacky verkörperte eine Mischung aus Verletzlichkeit und Stärke, als sie von ihrem Leben auf Reisen erzählte und das sesshafte Leben der beiden Jungen als „langweilig“ abtat. In diesem Moment wurde Jacky für Pascal mehr als nur die Diebin seines Rucksacks; sie wurde zu einer Projektionsfläche für all seine unausgesprochenen Träume.
Gefühlsbetont war die Szene, in der Jacky aus Pascals Hand las. „Jede Handfläche hat drei besonders ausgeprägte Linien. Die drei Lebenslinien, die Herzgegend. Sie steht für Freundschaft, für Liebe und für den Tod“. Diese metaphorische Verdichtung gab der Geschichte eine allgemeine Dimension: Es ging nicht nur um drei Teenager in Bodenstein, sondern um grundlegende menschliche Erfahrungen, die auch in unserer kleinen Rhön zum Tragen kommen können.
Die Stadt, in der nichts passiert
Angestachelt von Jackys Lebenshunger schmiedeten die drei den Plan, den letzten Tag des Sommers unvergesslich zu machen. Sie wollten eine legendäre Marihuana-Plantage finden und damit als „Kings“ auf der Party von Anna und Ayla aufkreuzen. Die Suche, die chaotische Fahrt durch die Stadt, die Begegnung mit dem abgewrackten Günter im Tanzcafé, der ihnen eine Polaroidkamera überließ – all diese Episoden waren gleichzeitig komisch und melancholisch. Sie zeigten Jugendliche, die verzweifelt versuchten, ihrem tristen Alltag zu entkommen, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen sollte. Die Suche scheiterte jedoch kläglich. Die Handlung verlagerte sich in das Tanzcafé Colorado, eine Kneipe, deren Atmosphäre durch atmosphärisches Licht und dichten Bühnennebel eingefangen wurde. Hier gipfelte Viktors Verzweiflung in einer fatalen Entscheidung: Er stahl eine alte Pistole von der Wand, um auf der Party Eindruck zu schinden.
Pulsierende Bässe, erhitzte Körper
Der Höhepunkt des Abends war die Partyszene. Die von der Bühnendecke hängende Beleuchtung flackerte im Rhythmus der Musik, während sich Pascal durch die Menschenmassen schob, auf der Suche nach Viktor. Mit stroboskopartigen Lichteffekten und lauten Bässen wurde das Chaos einer Hausparty inszeniert. Inmitten dieses Trubels kam es zu dem Moment, auf den viele gewartet hatten: Jacky küsste Pascal. Doch anstatt Glückseligkeit löste der Kuss bei ihm Panik aus. „Das geht nicht“, stammelte er und stieß sie von sich. Seine geheimnisvolle Vergangenheit schien ihn einzuholen. Die anschließende Szene, in der Pascal seinen Freund Viktor vermeintlich mit Jacky, dann aber mit einem anderen Mädchen küssend entdeckt, führte zum Bruch zwischen den Freunden. Dieser Moment des Verrats, der Enttäuschung und der Erkenntnis, dass Freundschaft nicht vor allem schützt, traf die beiden Protagonisten mit voller Wucht.

Bis zum Ende bewahrte die Inszenierung auf kunstvolle Weise das Geheimnis um Pascals Vergangenheit: den Umkleidekabinen-Vorfall, der ihm den Namen „Krüger” einbrachte, seine Furcht vor zwischenmenschlicher Nähe und seine hartnäckige Verweigerung zu schwimmen. Diese erzählerischen Lücken forderten die Schülerinnen und Schüler heraus, über die Hintergründe zu spekulieren und dabei die eigenen verborgenen Geheimnisse zu reflektieren.
Das Ende des Sommers
„Heute ist der 31. August. Das ist der letzte Tag des Sommers.“ Diese Feststellung durchzog das gesamte Stück wie ein Leitmotiv. Es war ein Symbol für den Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen, für das Ende der Unschuld und für die Erkenntnis, dass manche Momente unwiederbringlich sind. Am Ende dieses Tages standen Freundschaft, Liebe und Tod unter dem Sommerhimmel und es war klar: „Jedes Ende ist ein neuer Anfang. Und die Möglichkeiten sind unendlich“.
Für viele in den Klassen war dieser Abend die erste Begegnung mit einem modernen Theater in seiner rohen, warmen und unmittelbaren Erzählweise. Für manche Schülerin und manchen Schüler war es sicher auch die erste Erfahrung, dass Bühnenkunst lauter, direkter und emotionaler sein kann als jeder Kinofilm. Für die abstrakte Kulisse aus Kissen und Kisten zeichnete sich der Studiengang Kostüm- und Bühnenbild der Hochschule für Bildende Künste Dresden verantwortlich. Besonders kunstvoll war, wie sich Sprache und das Thema von Tom Odells „Another Love“ in leichter Melancholie ineinander verflochten. Ein Satz führte in einen Song hinein, die Songstrophe wiederum brach ab und ließ eine Figur zurück, die inmitten gesprochener Gedanken allein auf der Bühne stand. Die Songzeilen schafften es mit den Erfahrungen der Figuren zu vibrieren und sich wie ein hypnotischer Teppich über die Szenerie zu legen.
Über das Theaterstück konnte bei der Heimfahrt noch viel nachgedacht werden: Über Pascal, der sich nicht traute zu leben: Über Viktor, der zu viel wagte. Über Jacky, die zeigte, dass Freiheit auch bedeutet, verletzlich zu sein. Und über Bodenstein, diese Stadt, in der nichts passiert – bis plötzlich doch alles passiert, an diesem unscheinbaren 31. August, einem einzigen, letzten Sommertag.
Marcel Proksch
Szenenbilder: Christina Iberl, Staatstheater Meiningen