„Art is something that makes you breathe with a different kind of happiness.“
– Anni Albers
Rote, besprühte Ziegelsteine, wie sie für den Stadtteil Bushwick in Brooklyn, New York City, typisch sind: Darauf vergrößern sich Buchstaben wie Seifenblasen, die sich überlappen und ineinander verschachteln – mit kräftigen Schatten, die sie vom Untergrund plastisch abheben und zum Leben erwecken. Das stellt keine urbane Straßenecke dar, sondern ist ein Gemeinschaftsprojekt der Unterstufe im Deutschunterricht. Herausgekommen ist eine Pinnwand, auf der die individuellen Namen zu einem Gesamtbild zusammengefügt wurden.
Von New York City ins Klassenzimmer
Das Deutschprojekt brachte Elemente der Streetart ins Klassenzimmer: Dieses Kunstprojekt war eine Hommage an eine Kunstform, deren Wurzeln tief in den Straßenschluchten New Yorks der 1960er und 1970er Jahre liegen. Damals begannen Künstlerinnen und Künstler wie TAKI 183 mit Sprühdosen ihre Spuren an Mauern und U-Bahn-Waggons zu hinterlassen. Was als einfaches „Tagging“ begann, entwickelte sich von einer rebellischen Geste zu einer weltweit anerkannten Kunstbewegung mit eigenen Stilen. Einer dieser Stile, die sogenannte Bubble-Schrift, steht bei der Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern im Mittelpunkt. Ihre charakteristischen, aufgeblähten Buchstabenformen mit weichen, abgerundeten Kanten verleihen jedem Schriftzug eine dynamische und schwebende Qualität.
Die Welt ist das beste Lehrbuch
In der Unterrichtseinheit konnten Fünft- und Sechstklässler die Geschichte der Streetart entdecken, von ihren illegalen Wurzeln bis hin zu anerkannten Orten wie den „Halls of Fame“. Besonders im Fokus stand der britische Künstler Banksy, dessen Identität bis heute ein Geheimnis bleibt. Seine Werke erscheinen überraschend an Hauswänden weltweit und verschieben die Erwartungen an unseren Alltag. Sie behandeln wichtige gesellschaftliche Themen wie Krieg, Armut, Umweltzerstörung und soziale Ungerechtigkeit. Mit seiner Stencil-Technik schafft Banksy eindringliche Bilder, die zum Nachdenken anregen.

Das Projekt griff diesen kreativen Geist auf: Anstelle von Sprühdosen kommen Bleistifte, Fineliner und Marker zum Einsatz, um die Essenz der Streetart einzufangen. Statt mit Schulbüchern zu arbeiten, waren die jungen Schülerinnen und Schüler damit beschäftigt, jeden Namen als dreidimensionales Bubble-Graffiti zu gestalten und anschließend auf einer roten Wand zu präsentieren. Die Schülerinnen und Schüler lernten dabei, dass Kunst vielfältige Formen annehmen kann.
Raum für Fantasie
Der Weg vom Namen zum Graffiti-Kunstwerk folgt einem Prozess, der den Schülerinnen und Schülern in Schritten Raum für ihre eigene Fantasie lässt: Die Arbeit beginnt mit einem Bleistift auf weißem Papier. Der erste Buchstabe des Namens wird als hohes, schmales Liniengerüst vorgezeichnet. Im zweiten Schritt erfolgt die Verwandlung: Weiche, bauchige Blasenformen werden um die Linien gezeichnet, die den Buchstaben aufblähen und ihm Volumen verleihen. Anschließend werden die inneren Bleistiftlinien wegradiert, sodass nur die schwebende Außenform übrig bleibt. Um dem Buchstaben Kontur zu geben, werden die Außenkanten mit einem schwarzen Fineliner nachgezogen. Anschließend wird dem Buchstaben ein dreidimensionales Antlitz verliehen: An einer Seite wird durch leicht versetzte Konturlinien ein Schatten erzeugt. Auf einmal scheint der Buchstabe plastisch vom Papier hervorzutreten. Den Abschluss bildet die Farbgebung. Hier hat jede und jeder die Möglichkeit, die eigene Persönlichkeit einfließen zu lassen und den eigenen Namen in etwas Unverwechselbares zu verwandeln.
Architektur des Alltags
Während die individuellen Kunstwerke entstanden, wurde eine große Papierwand vorbereitet. Die rote Fläche symbolisiert die klassischen Ziegelsteinmauern, die seit jeher als Leinwand für Graffiti-Künstler dienen. Die Farbe Rot steht für Aufmerksamkeit, Leidenschaft und die Energie, die mit der Geschichte der Streetart verbunden ist.

Der Höhepunkt des Projekts war der Moment, in dem die fertig gestalteten und ausgeschnittenen Namen auf der roten Wand arrangiert wurden. Wie in einer echten „Hall of Fame“ fanden die einzelnen Werke ihren Platz, überlappten sich und bildeten Cluster.
Kunst hat die Macht, die Art und Weise zu verändern, wie wir uns verhalten und unser persönliches, aber auch gemeinschaftliches Leben gestalten. Das Statement der Schülerinnen und Schüler an der Wand beweist, dass die kreative Energie der Straße auch im Klassenzimmer einen inspirierenden und gemeinschaftsfördernden Platz finden kann.
Marcel Proksch